Können Prismen schaden?

Die Prismenkorrektion einer Augenmuskelparese in Verwechslung mit einer Heterophorie kann schaden: Übersehen einer organischen Hirnerkrankung!

Durch schwache – unnötige – Primen Schaden zu stiften, ist bei robustem normalen Binokularsehen nicht möglich. Grobe Fehlkorrektionen werden vom Patienten unmittelbar abgelehnt.

„Nur“ refraktionsbedingte Asthenopien und „zusätzlich“ heterophore Asthenopien sind voneinander zu unterscheiden.

Heterophorische Asthenopien mit Prismen zu erzeugen oder zu verstärken, ist denkbar bei Anlage zu disparater Fusion oder zu disparater Korrespondenz. Man müsste an Stelle von „neutralisierenden“ Prismen um 180° verkehrte Prismen tragen lassen, und so das Augenpaar verstärkt in die Anomalie hineintreiben. Das wäre als realer Schaden zu taxieren. Schaden entstünde voraussichtlich auch, wenn schielenden und nicht schielenden Kleinstkindern unzweckmäßige Prismen verordnet würden. Derartige hypothetische Experimente sind jedoch ethisch nicht vertretbar. Schaden kann wohl auch die Nichtanwendung der Polatest – Untersuchung, wenn sie indiziert ist.

Bei genügender Erfahrung und Sorgfalt des Brillenbestimmers können jedoch mit dem Polatest ermittelte Prismen nicht schaden.

Asthenopie

Asthenopie ist ein mehr oder weniger auffälliges Beschwerdebild. Beispiele: rasche Ermüdung beim Lesen; Tränenträufeln beim Lesen; Brennen oder Jucken der Bindehaut beim Lesen; Druckgefühle über einem oder beiden Augen; Kopfschmerzen; Blendungsempfindlichekeit (!); ein besonderes Bild bietet die gequälte Fusion bei einer nicht zu schweren Augenmuskelparese; Zerfall in Diplopie und wieder einfangen des Augenmuskelapparates zur regelrechten Binokularität. Beschwerden können sich steigern zu Brechreiz, Migräneanfällen und selten zu vegetativen Syndromen.

Die Schaltstelle im Zentralnervensystem, welche unter entsprechender Belastung asthenopische Beschwerden produziert, wird in physisch und vegetativ robusten Menschen selten in Aktion versetzt. Menschen mit organischen Sehbehinderungen aber mit trainierbaren Sehresten, z.B. bei Albinismus, bei totaler Farbenblindheit, bei Trübungen in der Hornhaut oder der Linse, und bei Fehlbildungen im Augeninnern, kennen Asthenopiesyndrom im allgemeinen nicht. Auch bei großwinkligem Strabismus ist Asthenopie ungewöhnlich. Zu den Voraussetzungen für Asthenopie gehört also nicht ein schlechter Visus, auch nicht Einäugigkeit, sonder ein qualitativ recht vollkommen konstruiertes Augenpaar.

Eine weitere Voraussetzung ist die Veranlagung. Bei vielen Menschen manifestiert sie sich nie. Wohl aber kann sie durch allgemeine Erkrankungen, durch ein Schädeltrauma und auch durch massive Überanstrengung des Sehorgans zu Tage treten. Die Reizschwelle an der supponierten Schaltstelle für Beschwerden ist dann erniedrigt. Zur typisch-heterophorisch-asthenopischen Veranlagung gehört schließlich eine nur suboptimale zentrale Koordination der Augäpfel – der Fusion – und/oder der Korrespondenz.

Die Differentialdiagnose zwischen der Asthenopie auf Grund von Refraktionsfehlern bzw. von unzweckmäßig korrigierten Refraktionsfehlern und der heterophorischen Asthenopie kann aus dem Charakter der Beschwerden vorläufig nicht gestellt werden. Der Erfahrene erhält allerdings bereits nach kurzer Anamnese Hinweise und mit Hilfe des Polatestes klärt sich die Diagnose schnell. Wer den Polatest nicht anwendet, erfährt das Resultat – umständlicher – ebenfalls ex juvantibus. Das heißt, sistieren die Beschwerden nach exakter Korrektion des Refraktionsfehlers, braucht er nach heterophorischer Asthenopie nicht mehr zu suchen; kehren sie Beschwerden wieder, muss er den Fall überweisen.

Vielen Ophtalmologen will es nicht einleuchten, dass ein zentral-nervöses Beschwerdebild allein durch eine Prismenbrille gelöscht werden kann. Die positiven Erfahrungen sind aber so zahlreich, dass die Forderung besteht, den Prismenbrillen- Versuch anderen Abklärungen voranzustellen. Verläuft er positiv, bleiben dem Patienten andere Untersuchungen, oft langes Fernbleiben von der Arbeit und finanzielle Opfer, erspart.

Kann man Asthenopie künstlich erzeugen?

Im Bereich der Refraktionsfehler ist es ohne weiteres möglich, künstlich Asthenopie zu erzeugen: z.B. durch Überkorrektion von Myopien; Unterkorrektion von Hyperopie und Presbyopie; unvorsichtige und unzeitgemäße Vollkorrektion von Astigmatismus; irrtümlich falsche Achsen bei Astigmatismus.

Wie schon gesagt, sind die Reizschwellen zur Auslösung von Asthenopie individuell verschieden. Viele robuste Personen dulden Fehler, wie oben angeführt – auch unabsichtlich dezentrierte Gläser – über lange Zeit ohne Beschwerden.

Zu den Voraussetzungen von Asthenopie gehört also nicht ein schlechter Visus, auch nicht Einäugigkeit, sondern ein qualitativ recht vollkommen konstruiertes Augenpaar.

Brillenoptisch ausgelöste Beschwerden kann man in der Regel auch brillenoptisch wieder beseitigen. An der Grenze des artifiziellen Schadens liegt immerhin folgende Beobachtung:

Anisometropie Re –16,0; Li –9,0dpt; dieser Mann ließ sich im Alter von etwa 40 Jahren erstmals Kontaktlinsen anpassen. Hierbei wurde auch das rechte Auge voll korrigiert, was in der zuvor getragenen Brille nicht der Fall gewesen war. Es entstand Diplopie, und das Gehirn übte den Wettstreit sehr schnell ein. Selbstverständlich wurde die Vollkorrektion des rechten Auges zurückgenommen, aber es verging eine lange beschwerdevolle Zeit, bis das linke Auge wieder eindeutig in Führung ging. ( Suppression ist bekanntlich eine wichtige binokulare Funktion; beseitigt man sie unbedacht, folgt die Strafe auf dem Fuß.)

Diplopie, die auch durch andere Ungeschicklichkeiten hervorgelockt werden kann, ist nicht eigentlich ein Bestandteil des Asthenopiesyndroms; wir betrachten nun die heterophorische Asthenopie. Ich habe einige Experimente an mir selbst vorgenommen.

a) Sanfte Versuche: 1975 und 1983 setzte ich vor meine Trifokalbrille 2pdpt Basis außen; 2 pdpt Basis innen; 4 pdpt Basis außen; 4 pdpt Basis innen, je auf beide Augen verteilt.

Auch wenn ich diese Vorhänger ganztags bei der beruflichen Arbeit vom Erwachen bis zum Einschlafen trug, fehlten Beschwerden entweder ganz oder sie waren minimal (1).

b) Im Februar 1989 ergänzte ich die Versuche folgendermaßen: 15 pdpt Basis nasal vor dem rechten Brillenglas, zwei Stunden getragen; Fusion in Lesedistanz gut; in 60cm noch knapp möglich; auf 1m Distanz und in größerer Entfernung Diplopie (Vergrößerungseffekt). Gegen Ende des Versuches leichte Druckgefühl im rechten Auge und bei Wegnahme des Prismas kurzdauernde Empfindung von Nausea.

Re. 15 pdpt Basis außen; Li 6 pdpt Basis außen; Folge Diplopie. Wenn ich willkürlich konvergiere, kann ich für fern und nah fusionieren, dies dann auch beim Lesen und Schreiben (Verkleinerungseffekt). Acht Seiten Buchdruck gelesen, mühsam. Bei längerer Dauer hätte das willkürliche Einwärtsschielen Beschwerden verursacht.

Ich betrachte mich als einen robusten Ophtalmostheniker. Diese beiden Versuche überzeugten mich dennoch davon, dass ich eine Schaltstelle für Asthenopie habe und dass diese bei Fortsetzung forcierter Versuche ansprechen würde.

Weil nicht uninteressant, referiere ich noch zwei weitere „unsinnige“ Selbstversuche:

c) 10 pdpt Basis 160° vor mein rechtes Trifokalglas geklebt, während vier Stunden getragen und mit Arbeiten am Schreibtisch, in der Küche und beim Nachtessen verbracht. Zuerst Diplopie mit seiten- und höhenversetzten Bildern, je etwa 3 cm/m. Nach etwa einer Stunde trat beim Lesen Fusion ein; nur beim Umherblicken im Raum weiterhin Diplopie. Beschwerden: keine!

d) 10 pdpt Basis oben vor dem rechten Trifokalglas, zweieinhalb Stunden getragen. Bildverschiebung rechts ca. 10 cm/m nach unten; zusätzlich geringe Exophorie. Beim Lesen und Schreiben führt das rechte Auge; beim Umherblicken und beim Hantieren mit Gegenständen führt das führt das linke Auge. Fusion unmöglich. Zu Anfang funktionierte die Suppression des Doppelbildes so gut, dass ich mühelos am Schreibtisch arbeiten konnte. Die Diplopie im Raum, besonders beim Hinuntergehen auf der Treppe, auch mein Mittagsmahl war lästig. Während des Lesens von acht Seiten relativ kleingedruckten Textes erlosch die Suppression allmählich; schließlich machte der Wettstreit längeres Lesen unmöglich, es wurde zur Plage.

Die Antwort lautet auf jeden Fall: auch heterophorische Asthenopie kann man – bei geeigneter Dosierung – sicherlich bei jedem Menschen erzeugen. Schaden stiften – im Sinne der Ausführungen im folgenden Abschnitt – kann man bei binokular normal veranlagten Personen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Bei Unterbrechung solcher Versuche oder bei Aufdeckung irrtümlicher Fehlverordnungen dürfte immer wieder Beschwerdefreiheit erreicht werden.

Kann man mit künstlich erzeugter Heterophorie doch auch wirklich schaden?

Unter „Schaden“ verstehe ich die Schaffung oder Intensivierung von Beschwerden sowie von sensomotorischen Störungen, die dann irreparabel wären. Wie schon gesagt, halte ich eine solche Entwicklung bei binokular normal veranlagten, physisch und vegetativ robusten Personen für unmöglich.

Um mit Erfolg zu schaden, müsste man „Veranlagte“ auswählen, d.h. Heterophoriker, die sich bereits auf dem Wege in einer FD1 oder FD2 befinden, und schon an Asthenopie leiden. Man würde sie – nicht wie üblich „ausgleichende“ Prismen -, sondern um 180° verkehrte Prismen tragen lassen. Auf diese Weise könnte es gelingen, die sensomotorische Fehlentwicklung zu beschleunigen und zu festigen.

Schaden würde man auch, wenn man schielende Kleinstkindern Zwangsprismen vorsetzte, die den Schielwinkel vergrößern. Gäbe man vom ersten Lebensquartal an allen Kindern – auch denen, deren Augen geradeaus gerichtet erscheinen – Prismenbrillen, würde man die zu Mikrostrabismus veranlagten vielleicht schon im ersten Lebensjahr herausfischen.

Als Verweigerung einer Heilbehandlung ist auch einzustufen, wenn von einer im ordentlichen Verfahren am Polatest ermittelten Vollkorrektion nur ein Teil in die Brille übernommen wird, oder wenn in zweiter Instanz ein Prismengegner Prismen zur Unzeit wieder „wegverordnet“.

Solche Versuche wären strafbar; niemand dürfte sie ausführen. Da ein Gerät wie der Polatest heute zur Verfügung steht, kommt auch seine Nichtanwendung in dafür geeigneten Fällen einem Schaden gleich. Als Verweigerung einer Heilbehandlung ist auch einzustufen, wenn von einer im ordentlichen verfahren am Polatest ermittelten Vollkorrektion nur ein Teil in die Brille übernommen wird, oder wenn in zweiter Instanz ein Prismengegner Prismen zur Unzeit wieder „wegverordnet“.

Es ist vorgekommen, dass eine Augenmuskelparese mit einer Heterophorie verwechselt und mit einem zwar hilfreichen Prisma behandelt wurde, dass aber darüber die neurologische Abklärung versäumt und z. B. einem Hirntumor Zeit gegeben wurde, weiter zu wachsen. An solche Schadensmöglichkeiten soll man selbstverständlich immer denken und sie ausschließen!

Nicht mehr stichhaltige Argumente gegen Prismen:

Man sollte die Äugigkeit nicht antasten; Heterophorie sei der obligate Reiz für den Fusionsreflex, d.h. Orthophorie sei unerwünscht. Mit Ausnahme von höheren Anisometropien ist das Gegenteil bewiesen. Korrektion auf Isovalenz im Stereotest des Polatestgerätes ist erlaubt.

Der Prismenausgleich einer Heterophorie „verstelle einen Regelkreis“ und führe damit zu einer Zunahme der Heterophorie. Diese gerate dann in einen Bereich, in dem sie Beschwerden bereite. Diese Hypothese umschreibt, was wir „Prismenfressen“ nennen. Man sollte aber endlich zur Kenntnis nehmen, dass nicht jede Heterophorie Prismen frisst, sondern zu zwei von 100 Esophorien, und dass in diesen Fällen nach vollzogenem Prismenaufbau die Schieloperation indiziert ist und von allfälligen Beschwerden befreit.

Vom „Regelkreis“ kann allenfalls gesprochen werden bei Strabismus mit anomaler Korrespondenz. Hier geht ja manchmal – sei es unter Prismen oder nach einem chirurgischen Eingriff – die anomale Sensomotorik in den ursprünglichen Winkel zurück.

Ein gut ausgebildeter und verantwortungsbewusster Brillenbestimmter kann faktisch keinen Schaden verursachen.

Schlussbemerkung

Bei Tieren, z.B. Hund und Katze, sind die Augenpaare ungeheuer fest zur Zusammenarbeit eingeschnappt. Schielen kommt nur vor, wenn ein Auge schwachsichtig ist oder wird. Ebenso verhalten sich Menschen mit gut eingespieltem robustem Binokularsehen. Ich nenne sie Ophtalmostheniker. Ihnen kann man mit unnötigen oder falschen Prismen nicht schaden.

Selbstverständlich sollte man ihnen unnütze oder falsche Prismen auch nicht zumuten. Personen mit sensorischen Fehlentwicklungen um 180°verkehrte Prismen zu verschreiben, ist ethisch unzulässig. Geschähe es irrtümlich, wäre Schaden zu erwarten. Diesen Personen die regelrecht „vollkorrigierende“ Brille vorzuenthalten, mag ebenfalls als Schaden eingestuft werden. Dass man bei Mikrostrabismus mit Prismen vorsichtig umgehen muss, ist bekannt.

Das heißt, ein gut ausgebildeter und verantwortungsbewusster Brillenbestimmer kann faktisch keinen Schaden verursachen.

Prismenverordnungen gegen Asthenopien auf Grund der historischen Untersuchungsmethoden und der darauf basierenden „Regeln“ haben oft enttäuscht und dadurch das Vertrauen des Patienten oder Klienten in die Kompetenz des Augenarztes oder des Augenoptikers getrübt. Niemand möchte ein weiteres Mal die gleiche Peinlichkeit erleben.

Die Wurzel für die erwähnten, noch immer nicht verstummenden Warnungen vor Prismen liegt anderswo, nämlich: Prismenverordnungen gegen Asthenopie auf Grund der historischen Untersuchungsmethoden und der darauf basierenden „Regeln“ haben oft enttäuscht und dadurch das Vertrauen des Patienten oder Klienten in die Kompetenz des Augenarztes oder des Augenoptiker getrübt. Niemand möchte ein weiteres Mal die gleiche Peinlichkeit erleben. Den Polatest, der seit 30 Jahren bereit steht, die Lücke auszufüllen, hat man aber nicht erlernt. Es ist nachfühlbar, dass Klinikvorstehern und Abteilungsleitern, welche gewöhnlich die Fortbildungsvorträge halten, Zeit und Muße fehlen, sich in dieses Verfahren einzuarbeiten. So tritt man nach wie vor auf der Stelle und hemmt den möglichen Fortschritt. Im allgemeinen erwartet man, dass der Unterricht an den Universitäten mit der Entwicklung Schritt hält. Geschieht dies nicht, muss die Evolution eben anderswoher, z.B. auch aus unserem Kreis, in Gang gesetzt werden.

Es ist nachfühlbar, dass Klinikvorstehern und Abteilungsleitern, welche gewöhnlich die Fortbildungsvorträge halten, Zeit und Muße fehlen, sich in dieses Verfahren einzuarbeiten. So tritt man nach wie vor auf der Stelle und hemmt den möglichen Fortschritt.

Literatur

  1. Brückner, R.: Inverse oder Antiprismen gegen Asthenopie? Augenärztliche Fortbildung 8/2 334-228 (1984)